Morrissey und „Low In High School“ … der November gebar ein Monster

Der Novem­ber brachte ein Mon­ster her­vor und sein Name ist „Low In High School“. 5 gute Songs und 7 viel weniger gute – darauf läßt sich das neue Mor­ris­sey-Album wun­der­bar herun­ter­brechen. Ich wußte nach den ersten Durch­läufen nicht mehr, ob ich lieber in Trä­nen aus­brechen oder kopf­schüt­tel­nd die Dorf­s­traße herun­ter­laufen sollte. Dazu das jet­zt schon „leg­endäre“ Inter­view im SPIEGEL von let­zter Woche; es fällt in Zeit­en wie diesen nicht leicht, nicht am Meis­ter zu zweifeln. Aber seine ganzen kru­den Aus­sagen zum Welt­geschehen mal außen vor gelassen – wir wid­men uns den Songs in der Einzelkri­tik, ver­lieren einige Worte zum Album all­ge­mein und schließen mit den tech­nis­chen Details. Los geht’s:

© Ein Scheiß­fo­to, aber ich hat­te ger­ade nichts besseres…

My Love, I’d Do Any­thing for You
Ein bre­it­beinig rock­ender, maß­los aufgepimpter Krawall­brock­en zum Auf­takt. Da wollte jemand viel, für meinen Geschmack ein bißchen zuviel. Erin­nert an die Eröff­nung auf „Years Of Refusal“, die mit „Some­thing Is Squeez­ing My Skull“ ähn­lich rabi­at aus­fiel. Die ersten Zeilen des Albums laut­en also „Teach your kids to rec­og­nize and despise all the pro­pa­gan­da, fil­tered down by the dead ech­e­lons main­stream media“. Ich bin ja ein großer Fre­und des Allesh­in­ter­fra­gens, aber das hier klingt mir dann doch eine Spur zu sehr nach „Lügen­presse“. Da war der Meis­ter früher weniger ein­deutig und ließ immer Raum für Inter­pre­ta­tio­nen. Hier klingt’s textlich genau­so krawal­lig wie es das musikalisch tut. 6/10

I Wish You Lonely
Schon bess­er, es klingt wieder nach Mor­ris­sey. Viel mehr fällt mir dazu allerd­ings auch nicht ein. 7/10

Jacky’s Only Hap­py When She’s Up on the Stage
Noch bess­er. Mor­ris­sey stre­it­et ja hart­näck­ig ab, das es sich bei diesem Song um eine Analo­gie auf den Brex­it han­delt. Was hanebüchen ist, denn der Zusam­men­hang ist offen­sichtlich; es passt ein­fach alles. Eine schöne Num­mer, weniger brachial als die ersten bei­den, ein­er der Höhep­unk­te des Albums. 8/10

Home Is a Ques­tion Mark
… gle­ich gefol­gt vom absoluten Höhep­unkt des Albums. Ein wun­der­schön­er Song. Allerd­ings klin­gen die Stre­ich­er ein wenig syn­thetisch. Es gibt übri­gens einen übrigge­bliebe­nen Titel aus den Quar­ry-Ses­sions von 2004 und der heißt … taaadaaaaa! … „Home Is A Ques­tion Mark“. Die Song­writer-Cred­its zu dieser Ver­sion ver­weisen allerd­ings auf das aktuelle Band­mit­glied Man­do Lopez statt auf Alain Whyte, der für einen Großteil der Quar­ry-Songs die Co-Writer-Cred­its hält. Ein Schelm, wer Bös­es dabei denkt… bei der Klasse der Num­mer würde es mich nicht wun­dern, wenn sie tat­säch­lich ein Überbleib­sel aus Quar­ry-Zeit­en ist. Nur Alain Whyte wird’s genau wis­sen… 9/10

Spent the Day in Bed
Die Vor­ab-Sin­gle, die mich schon zweifel­nd zurück­ließ. Hier zeigen sich erst­ma­lig die Tin­geltan­gelt­e­den­zen, auf die wir im weit­eren Ver­lauf des Albums noch öfter stoßen wer­den. Früher hätte sich der Text zum Song wie eine schöne Ver­weigerung­shymne gele­sen; in Zeit­en wie diesen klabaustert er schon an der Gren­ze zur ein­gangs erwäh­n­ten Lügen­presse dahin. Musikalisch ganz nett, ganz entspan­nt, tut nicht weit­er weh, ist allerd­ings auch nicht schlecht. Wobei mich die „No Bus, No Boss, No Rain, No Train“-Zeilen in ihrer infan­tilen Bil­li­greimigkeit fürchter­lich an „Ill In Sevill … Gaga In Mala­ga“ aus dem Bull­fight­er auf „World Peace Is None Of Your Busi­ness“ erin­nern. 7/10

I Bury the Living
Die guten Momente des Albums sind hier bere­its vor­bei. Ab jet­zt wird’s wirr. In diesem Song ver­sucht sich Mor­ris­sey an ein­er Nick Cave-schen Vari­ante zum The­ma Mil­i­taris­mus, Krieg, Sol­daten­leben. Bis 5:17 min funk­tion­iert das einiger­maßen, dann kommt der grauen­hafte „It’s fun­ny how the War goes on with­out our John!“-Teil, den ich ein­fach nur schreck­lich finde. 5/10

In Your Lap
Eine unin­spierte Bal­lade zum Ara­bis­chen Früh­ling, vor­ge­tra­gen am alten Klimperklavier von Johannes Heesters. 2/10

The Girl from Tel-Aviv Who Would­n’t Kneel
Ich hat­te nach den ersten live darge­bote­nen neuen Songs den Ein­druck, das Album würde in Rich­tung ChaChaCha-Arab-Pop-Fla­men­co-Welt­musik gehen. Dieser Titel bestätigt meine Ein­schätzung. Erneut furcht­bares Gek­limper auf dem Klavier. 4/10

All the Young Peo­ple Must Fall in Love
Jet­zt sind wir wieder bei den vorhin erwäh­n­ten Tin­geltan­gel­tenden­zen. Ein run­dum miss­lun­gener Song, mit viel Tam­tam, Hand­claps und einem schreck­lichen Refrain. Weil mir der Teil bis zum ersten Cho­rus gefällt, vergebe ich 2/10 Punkte.

When You Open Your Legs
… und weit­er geht’s mit „Song­writ­ing nach Zahlen“, so kommt mir die Ver­anstal­tung hier näm­lich langsam vor. Dieser Song klingt wie die Kopie der Kopie von einem mit­telmäßi­gen Mor­ris­sey-Song – „Song­writ­ing nach Zahlen“ eben. Das ist mir erst­ma­lig bei „Ring­leader Of The Tor­men­tors“ aufge­fall­en, auch dort waren viele Songs nur schlechte Kopi­en von alten Mor­ris­sey-Songs. Kom­plett über­flüs­sige Num­mer. 1/10

Who Will Pro­tect Us from the Police?
Es geht wieder ein wenig aufwärts. Bei den ersten Durch­läufen hat mir dieser Song über­haupt nix gegeben, inzwis­chen ist er einiger­maßen hör­bar. Den­noch will mir partout nicht viel dazu ein­fall­en. 5/10

Israel
Eine run­dum mißlun­gene Schmonzette. Ich habe keine Mei­n­ung zum Kon­flikt zwis­chen Israel und Palästi­na; nur für den Fall, das mir jemand unter­stellen möchte, dass ich den Song deshalb nicht mag. 1/10

Das macht ins­ge­samt nach Adam, dem Riesen, 57 Punk­te; was wiederum in der Gesamtwer­tung 4.75/10 Punk­ten macht. Ein mit­telmäßiges Album. 6 oder 7 Songs als EP hät­ten für mich gere­icht, der Rest ist über­flüs­siges und ent­täuschen­des Füll- und Blendwerk.

Zu den ein­gangs erwäh­n­ten tech­nis­chen Details noch ein paar Anmerkun­gen: Ich habe mir die LP zweimal gekauft. Ein­mal die „lim­i­tierte“ LP in grün und die reg­uläre Pres­sung in trans­par­entem Vinyl. Die Laufzeit beträgt ca. 27 Minuten je Seite, was viel zu lang ist. Bekan­ntlich nimmt die Soundqual­ität von Vinyl ab ein­er Laufzeit von ca. 20 Minuten je Seite (12″, 33 1/3 RPM) drama­tisch ab. So auch bei diesen Pres­sun­gen, die voller Clicks und Pops sind, und außer­dem extrem leise. Auch das ist der Physik und dem auf­grund der über­mäßi­gen Laufzeit gerin­gen Ril­len­ab­stand geschuldet. „Low In High School“ hätte als Dop­pel-LP erscheinen müssen. Ver­gle­icht man die LPs mit der CD-Pres­sung, fällt ein deut­lich druck­voller und bass­lastiger Sound auf let­zter­er auf. Die Auf­machung ist ordentlich: Solides Gate­fold (über das Cov­er­mo­tiv lässt sich tre­f­flich stre­it­en), bedruck­te Innen­hüllen, ins­ge­samt ein schönes Lay­out; auch wenn die Typo sehr nach Ham­burg-Mannheimer Reloaded aussieht. Das Album ist außer­dem in vier weit­eren Far­ben sowie als 7″-Box erschienen. Die habe ich mir allerd­ings ges­part… gut so, denn let­z­tendlich zählt die Musik und nicht das Medium.

Wie es mit Mor­ris­sey weit­erge­ht, ste­ht in den Ster­nen. Ich wün­sche mir irgend­wann nochmal ein richtig gutes Album, mit richtig gutem Song­writ­ing der alten Moz­za-Schule. Ob es jemals soweit kom­men wird, ist im Moment mehr als fraglich. Außer­dem wün­sche ich mir, das sich unsere alte Man­ches­ter-Gurke mit Kom­mentaren zum Welt­geschehen ein wenig zurück­hält und ein­fach das macht, was er am besten kann bzw. kon­nte: Tolle Songs mit tollen Tex­ten schreiben und jene mit seinem einzi­garten Schmelz in der Stimme vor­tra­gen. Ich geh‘ jet­zt Viva Hate, You Are The Quar­ry oder sog­ar Bona Drag hören und erin­nere mich an tollere Zeiten… 😉

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