Tag 7889 in der Corona-Isolation für einen Ausflug zum Magdeburger REWE-Markt genutzt. Aus den Lautsprechern der Markbeschallung erklingen Durchhalteparolen, die wie ein Mix aus Kindergarten-Pädagogik („Wir halten Abstand und schubsen nicht!“) und Orwellscher „1984“-Propaganda („Der REWE-Markt bedankt sich für Ihre Mitarbeit. Wir alle halten zusammen in Zeiten wie diesen.“) besteht.
Drei Plätze vor mir an der Nachbarkasse fällt mir ein Glatzkopf mit übermäßig stark bedruckten Kackklamotten auf.
Auf der Rückseite seines T‑Shirts die Aufschrift „Fight Club D39“, wobei die „39“ wohl für die Postleitzahl der Kampfklubber stehen soll. Auf seinem Hinterkopf „White (Thorshammer) Power“, miserabel tätowiert und nur unter Anstrengungen zu entziffern. Während ich darüber nachdenke, ob ich aus den direkt neben mir stehenden Bierkästen eine Flasche Bier nehmen, und sie gepflegt und mit Schwung über seinen Hinterkopf ziehen sollte, fallen mir seine unteren Extremitäten auf.
Auf seiner Hose prangt im Halbkreis quer über den Arsch „Total war is coming“. Was mich spontan an ein vermutlich vorhandenes Diarrhoe-Problem seinerseits; ihn aber vermutlich eher an Goebbels’ „totalen Krieg“ erinnert. Für diesen allerdings, schien er mir aufgrund der teigartigen Wurstbrotigkeit seines Körperbaus denkbar ungeeignet.
Während eine neue Kasse öffnet und die Kassiererin mir ein freundliches „Kommse doch mit rüber!“ entgegenwirft, stelle ich fest, was für unglaubliches Geschmeiß doch in dieser unserer Landeshauptstadt rumläuft. Vielleicht trifft das Coronavirus ja auch mal die richtigen.
1989. Ein Land bricht zusammen und hinterläßt nichts außer einem riesigen Vakuum. Jeder ist auf der Suche nach Orientierung, neuen Normen und Werten und mitten in dieser Leere herrschen Rat- und Planlosigkeit. Und es herrscht Gewalt. Ein Ereignis aus den frühen 90er Jahren ist mir neben dem Tod von Torsten Lamprecht und dem Tod von Frank Böttcher besonders in Erinnerung geblieben: Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und linken Jugendlichen Ende 1991 in Behnsdorf. Nichts darüber lässt sich im Internet finden, weshalb ich mich auf den Weg in Zeitungsarchiv machte und mit diesem Artikel die Vorfälle samt Überfall auf die Music-Hall in Behnsdorf Ende 1991 dokumentieren möchte.
Nachdem ich im Volksstimme-Archiv die Jahrgänge 1992 und 1993 erfolglos beackert habe, mußte ich von meiner trügerischen Erinnerung Abstand nehmen – ich hatte die Ereignisse in Behnsdorf zeitlich in diesen beiden Jahren verortet – und mich dem Jahr 1991 widmen. Im November wurde ich fündig.
Die Auseinandersetzungen in der und um die Music-Hall Behnsdorf fanden in der Nacht vom 2. auf den 3. November 1991 statt. Dem vorausgegangen war eine lange Kette von gewalttätigen Übergriffen durch Neonazis im Großraum Haldensleben.
Die Music-Hall war ein zur Discothek umfunktioniertes altes LPG-Gebäude, das von einem gewissen Manfred Kurth ab dem August 1990 betrieben wurde. Es wurde recht schnell auch zum Sammelbecken für Neonazis aus dem Raum Haldensleben, Magdeburg und Wolfsburg. Nazis im seinerzeit typischen Outfit – Bomberjacke, Springerstiefel, die obligatorischen Aufnäher – waren damals im Straßenbild und eben auch in Discotheken völlig normal. Aus dem Umfeld der Music-Hall gab es erste Übergriffe auf Menschen, deren Gesichter den Nazis nicht passten. Es reichte damals völlig aus, irgendwie anders auszusehen oder sich „anders“ zu verhalten. Man mußte kein Punk sein, um auf die Fresse zu bekommen. Alles, was nicht ins kleingeistige Weltbild unserer ewiggestrigen Freunde passte, wurde gnadenlos weggeprügelt. Auch ich hatte bereits 1990 das Vergnügen, zusammen mit einem Kumpel im Anschluß an das legendäre Rotten To The Core-Festival von 5 Glatzen überfallen worden zu sein… aber zurück zum Thema.
Nach einer Reihe von Überfällen und Körperverletzungen auf Punks und andere Jugendliche wurde zunächst zum Boykott der Music-Hall aufgerufen. Ein paar Tage später sammelten sich an der Discothek „Pleitegeier“ im benachbarten Flechtingen mehrere Dutzend junge Menschen und beschlossen, die Music-Hall im benachbarten Behnsdorf zu überfallen und den Nazis eine ordentliche Abreibung zu verpassen.
Es kam zu massiven Körperverletzungen, Ausschreitungen und Zerstörungen. Ich kann mich erinnern, gerüchteweise von Toten gehört zu haben; dazu ließ sich allerdings nichts finden. Laut Augen- und Ohrenzeugen war es ein babarisches Schauspiel apokalyptischer Gewalt; und zwar auf beiden Seiten. Ich bin dazu mit 2 Menschen im Gespräch, die dabei waren. Vielleicht folgt ja später noch ein Interview oder ein Augenzeugenbericht.
Vorerst jedoch sind in nachfolgender Galerie die Ereignisse – aus Sicht der Volksstimme-Redakteur*innen natürlich – dokumentiert. Außerdem geben die Artikel einen guten Eindruck davon, wie boulevardesk und auf der Suche nach journalistischem Niveau die Lokalpresse damals war. Man hatte wohl große Angst, die Abo-Kunden laufen in Richtung BILD davon… Interessant auf jeden Fall, die völlig sinnfreien Antworten der befragten „rechten Jugendlichen“, die Flugblätter der „AFA-HDL“, oder die Bemühungen vom damaligen Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche – alles in der Galerie zu lesen.
Gute Unterhaltung, soweit man bei diesem Thema von Unterhaltung reden kann.
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